Vom Arbeiterkind zum Doktor

Fokusthema: Der Hürdenlauf auf dem Bildungsweg der Erststudierenden

  • Die soziale Herkunft entscheidet noch immer maßgeblich über den Bildungserfolg eines Kindes, auch wenn sich die Bildungschancen für Nichtakademikerkinder etwas verbessert haben.
  • Nur 27 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus einem Nichtakademikerhaushalt beginnen später ein Studium. Bei Akademikerkindern sind es 79 Prozent.
  • Die Folge: Der Anteil der Kinder aus Nichtakademikerhaushalten an allen Studierenden liegt bei nur 47 Prozent. An Schulen machen Nichtakademikerkinder aber 72 Prozent der Kinder aus.
  • Größte Hürden auf dem Bildungsweg sind der Übergang zu einer hochschulberechtigenden Schule und der darauffolgende Wechsel an eine Hochschule.

Bildungstrichter – Übergang zur Hochschule problematisch

Die Herkunft entscheidet in Deutschland immer noch maßgeblich über den Bildungserfolg: Kinder aus Akademikerhaushalten überschreiten Bildungsschwellen auch heutzutage leichter als Kinder aus Nichtakademikerhaushalten. Dabei divergieren Bildungserfolge nicht auf allen Stufen des Bildungstrichters gleich stark. Die überproportionale Selektion findet zwischen Grundschule und Studienbeginn statt. Von 100 Nichtakademikerkindern beginnen nur 27 ein Studium; bei Akademikerkindern sind es 79.

Dabei spielen sowohl der Übertritt in die gymnasiale Oberstufe als auch von dieser an die Hochschule eine zentrale Rolle; an beiden Bildungsschwellen halbieren sich in etwa die Zahlen der Nichtakademikerkinder. Unter den Akademikerkindern erreichen hingegen etwa vier von fünf die gymnasiale Oberstufe; wiederum etwa vier von fünf von ihnen beginnen auch ein Studium. Die Studienanfängerinnen und Studienanfänger, die eine nichtgymnasiale Hochschulberechtigung erhalten, machen bei den Nichtakademikerkindern 22 Prozent und bei den Akademikerkindern neun Prozent aus.

Seit der letzten Erhebung haben sich die Übergangsquoten zwischen Grundschule und Hochschule für Akademiker- wie Nichtakademikerkinder um fünf Prozentpunkte beziehungsweise sechs Prozentpunkte verbessert. Die Bildungschancen bleiben trotzdem ungleich verteilt. Während der Anteil der Nichtakademikerkinder in der Grundschule etwa drei Viertel der Kinder entspricht, beträgt er an der Hochschule etwas weniger als die Hälfte.

Bildungstrichter (Grafik)

Lesehilfe: 27 von 100 Nichtakademikerkindern beginnen mit einem Studium, elf von 100 Nichtakademikerkindern erwerben den Mastertitel, zwei den Doktortitel
* In der Stufe zwischen Studienanfänger und Bachelorabsolventen ändert sich die Berechnungsgrundlage.
Quelle: Middendorff et al. 2017, Kracke et al. 2018, Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, DZHW 2019, Statistisches Bundesamt 2021,
ISTAT-KOAB 2021, Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021

 

Ist der Schritt an die Hochschule geschafft, gleichen sich die Erfolgsquoten von Nichtakademikerkindern und Akademikerkindern allerdings deutlich an. 76 Prozent aller Nichtakademikerkinder, die sich an Hochschulen eingeschrieben haben, absolvieren das Bachelorstudium; ihnen stehen 82 Prozent aller eingeschriebenen Akademikerkinder gegenüber. Bei der Promotion besteht mittlerweile nur noch ein Unterschied von vier Prozentpunkten: Der Anteil aller Nichtakademikerkinder, die promovieren, hat sich auf zwei Prozent verdoppelt. Bei Akademikerkindern sind es sechs Prozent. Nichtakademikerkinder liegen beim Übergang zur Promotion mit einer Quote von 17 Prozent noch vor den Akademikerkindern. Das häufig bemühte Narrativ, dass Nichtakademikerkinder in den ersten Jahren an der Hochschule überfordert sind und dann das Studium abbrechen, wird durch die Datenlage also nur bedingt bestätigt.

Die zahlreichen Bemühungen im Rahmen des "Qualitätspakts Lehre" die Studieneingangsphase zu verbessern, könnten hier Früchte getragen haben. Laut Hochschullehrenden wurden hierdurch die individuellen Unterstützungsbedarfe stärker in den Fokus gerückt und lernunterstützende Programme zeigten in den Augen von etwa drei Viertel der Projektleitungen eine hohe oder sehr hohe Wirksamkeit.

Die Covid-19-Pandemie droht die kleinen Erfolge der vergangenen Jahre wieder rückgängig zu machen. Nichtakademikerkinder sind stärker von unzureichender digitaler Infrastruktur, reduzierten Lernzeiten und zunehmenden Finanzierungsschwierigkeiten betroffen.

Die Covid-19-bedingte zeitweise Umstellung auf Homeschooling führte zu einer deutlichen Verringerung der Lernzeit von Schülerinnen und Schülern. Laut einer Studie des ifo Instituts halbierte sich die durchschnittliche tägliche Lernzeit von 7,4 auf 3,6 Stunden. Jugendliche hatten so signifikant mehr Zeit für passive Tätigkeiten wie Fernsehen, Computer- und Handyspielen oder die Beschäftigung mit sozialen Medien. Nichtakademikerkinder verbrachten eine Stunde mehr pro Tag mit diesen Tätigkeiten, was befürchten lässt, dass die Covid-19-Pandemie die Bildungsungleichheit in Deutschland verstärkt hat.

Selektion von Nichtakademikerkindern im Bildungstrichter (Grafik)

Auch im Hochschulalltag wurden Nichtakademikerkinder vor zusätzliche Herausforderungen gestellt. Viele Erststudierende haben wenige (beziehungsweise keine) Bezugspersonen, die studiert haben. Für sie ist die Interaktion mit anderen Studierenden und Lehrpersonal umso wichtiger. Eine Studie des Stifterverbandes und McKinsey von 2020 hat gezeigt, dass es 69 Prozent der befragten Studierenden an sozialen Kontakten infolge der Covid-19-bedingten Onlinelehre mangelt – eine besondere Hürde für Nichtakademikerkinder, die im Hochschulalltag auf den Austausch mit erfahreneren Studierenden angewiesen sind. Dies führt in der Praxis oftmals zu Informationsdefiziten und mentalen Barrieren: Erststudierende verlieren den Anschluss und fühlen sich nicht zugehörig.

Neben den sozialen Herausforderungen müssen sich viele Erststudierende zudem mit der oft herausfordernden Finanzierung des Studiums auseinandersetzen. Nur 15 Prozent der jungen Menschen aus Arbeiterfamilien können sich bei der Studienfinanzierung gänzlich auf ihre Eltern verlassen. Ein Nebenjob ist für sie existenziell zur Abdeckung der Lebenshaltungskosten. 40 Prozent aller Studierenden haben durch Covid-19 jedoch ihren Nebenverdienst verloren – ein Umstand, der viele Erststudierende in eine unsichere Lage gebracht hat und durch staatliche Maßnahmen nicht komplett verhindert werden konnte.

 

Vier Hürden beim Übergang von der Schule zur Hochschule

Der Übergang von der weiterführenden Schule zur Hochschule ist von zentraler Bedeutung für den Bildungserfolg von Nichtakademikerkindern. Um diesen Übergang weiter zu erleichtern, müssen vier Hürden überwunden werden.

  • Mentale Barrieren
    Weniger Erfahrungswerte im unmittelbaren Umfeld lassen die Herausforderungen des Studiums für Nichtakademikerkinder oftmals bedrohlicher wirken. Fehlende Rollenvorbilder führen dazu, dass sich Nichtakademikerkinder ein Studium seltener zutrauen.
  • Kompetenznachteile
    Nichtakademikerkinder wachsen häufig in weniger lernstimulierenden Umgebungen auf (zum Beispiel weniger Bücher, seltenere Museumsbesuche) und erhalten weniger Unterstützung von den Eltern beim Lernen. Die Covid-19-Pandemie hat zudem für neue Herausforderungen beim Lernen gesorgt. Nichtakademikerkinder verfügen zu Hause oftmals nicht über einen eigenen Platz, an dem sie Schulaufgaben erledigen können, auch die digitale Infrastruktur fehlt häufig. Daraus ergeben sich in vielen Fällen Lernlücken bei Nichtakademikerkindern im Vergleich zu Akademikerkindern.
  • Informationsdefizite
    Wenig Erfahrungswerte und Informationen aus dem elterlichen und sozialen Umfeld zu Studienformaten und Studienfächern sind ein Hindernis für viele Nichtakademikerkinder. Dies führt zu einem geringeren Interesse am Studium oder einer Überforderung bei der plötzlichen Konfrontation mit einer Fülle von Studieninformationen.
  • Finanzierung
    Nichtakademikerkinder erhalten oft weniger finanzielle Unterstützung von ihren Eltern. Dies kann an der Einkommensschwäche der Haushalte oder einer geringeren Bereitschaft liegen, ein Studium zu finanzieren. Weitere Finanzierungsmöglichkeiten (zum Beispiel BAföG, Studienkredite) sind nicht immer ausreichend, die Beantragung gestaltet sich oft schwierig. Nebenjobs schränken das Zeitbudget ein, das Studierende aus Nichtakademikerhaushalten für ihr Studium aufwenden können.
Hürden für Nichtakademikerkinder (Grafik)

Handlungsempfehlungen

Um die Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem zu verbessern, können zu allen Abschnitten des Bildungsweges – und sogar davor – unterstützende Maßnahmen getroffen
werden. Mentale Barrieren, Informationsdefizite, Kompetenznachteile und Finanzierung spielen dabei zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine unterschiedlich starke Rolle.

  • Für den Schulalltag: Um Informationsdefizite abzubauen, sollten Hochschulen an Schulen aktiver für ein Studium werben, um über ihr Studienangebot aufzuklären. Dies könnte Nichtakademikerkindern die Aufnahme eines Studiums erleichtern. Dafür sollten bestehende Talent-Scouting-Programme an Schulen mit Kindern ausbildungsferneren Milieus massiv ausgebaut werden.
  • Für den Übergang zum Studium: Die Politik sollte weitere finanzielle Mittel einplanen, um die Bezahlbarkeit des Studiums sicherzustellen. Denkbar wäre eine Reformierung des BAföG – zum Beispiel über höhere und ortsabhängige Wohnungszuschüsse, eine Förderung über die minimale Regelstudienzeit hinaus bei entsprechendem Nachweis notwendiger Nebentätigkeiten und eine unkomplizierte Berücksichtigung aktueller Einkommensbescheide. Die Antragstellung sollte bundesweit vereinheitlicht und digitalisiert werden. Auch die Etablierung von mehr Diversitäts-Stipendienprogrammen – insbesondere für Studierende aus Nichtakademikerhaushalten – kann ein probates Mittel sein. Hochschulen sollten bestehende Zulassungskriterien überdenken und verstärkt mit unorthodoxen Zulassungsverfahren (zum Beispiel höhere Gewichtung von Nebenjobs in Auswahlverfahren, Losverfahren) experimentieren, um auch Covid-19-bedingt leistungsschwächeren Studienanfängern in der aktuellen Zeit die Chance auf einen Platz in ihrem Wunschstudiengang zu geben.
  • Für den Studienstart: Die mit den Mitteln aus dem Qualitätspakt Lehre finanzierten Programme zur Studieneingangsphase haben bereits zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit an Hochschulen beigetragen. Die staatliche Finanzierung und die Maßnahmen an den Hochschulen sollten deshalb langfristig verstetigt werden.

SCHRITTE IN DIE RICHTIGE RICHTUNG

  • Die BAföG-Reform: Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung 2021 sieht vor, eine weitreichende BAföG-Reform umzusetzen. Inwiefern dies gelingt, ist zum Zeitpunkt der Publikation nicht nicht absehbar; geplant sind unter anderem ein elternunabhängigeres BAföG, Verlängerung der Förderhöchstdauer, Anhebung der Bedarfssätze.
  • Westfälische Hochschule & Studienpioniere: Aufbauend auf der Initiative "Studienpioniere" des Stifterverbandes ist die westfälische Hochschule an Schulen in NRW präsent. Sie bietet Beratung und Studienbegleitung für Nichtakademikerkinder "auf Augenhöhe" an.
  • Talentscouting Aachen: Ziel dieser Initiative für mehr Chancengerechtigkeit von RWTH und FH Aachen ist es, talentierte Schülerinnen und Schüler zu identifizieren und individuell zu fördern, um ihnen einen reibungslosen Übergang an die Hochschule zu ermöglichen.
  • VorbilderAkademie: Die VorbilderAkademie des Talentförderzentrums Bildung & Begabung bringt Jugendliche mit Migrationshintergrund mit Akademikerinnen und Akademikern in Kontakt, die einen ähnlichen Hintergrund haben.
  • Bayer AG & Deutsche Telekom: In ähnlichen Projekten geben die Bayer AG und die Deutsche Telekom jungen Menschen die Chance auf eine Ausbildung, auch wenn sie die klassischen Auswahlkriterien dafür nicht erfüllen. Hier wird – mit Erfolg – eine Starthilfe für Menschen geboten, die sonst keinen Ausbildungsplatz erhalten hätten. Ein ähnliches Format wäre auch für das Studium denkbar.
Simone Bagel-Trah (Foto: Damian Gorczany)
Foto: Damian Gorczany

In der Vielfalt liegt eine große Stärke – wenn wir sie richtig nutzen

Henkel-Chefin Simone Bagel-Trah war in Deutschland die erste Frau an der Aufsichts-Spitze eines Dax-Konzerns. Ein Gespräch über die Bedeutung von Diversity für Unternehmen, über die Schwierigkeiten der chancengerechten Bildung – und darüber, was sie selbst über Brennpunktschulen gelernt hat.
​Interview im MERTON-Magazin

Der Hochschul-Bildungs-Report 2020 ist eine Initiative von